»Wenn die Eiseskälte kommt, ist der Sharak’Tol nahe, genauso wie dein Tod.«
Norondisches Sprichwort
»Dari! komm zurück!«
Orek Nagran liess resigniert die Hände sinken und griff nach den Zügeln. Mit bestimmten Schenkeldruck lenkte er das Pferd an jene Stelle, an welcher sich sein Hund knurrend vor wenigen Augenblicken durch das Dickicht gezwängt hatte und verschwunden war. Schnee fiel in tanzenden Flocken vom Himmel und legte sich in einer gespenstischen Stille auf die bereits weisse Landschaft nieder.
Der Atem vor Oreks Gesicht kondensierte zu Wölkchen, als er einen tiefen Seufzer ausstiess und sich vom Rücken des Pferdes schwang. Er warf einen missmutigen Blick in das Unterholz, welches den Waldrand säumte und verspürte nicht die geringste Lust, seinem Hund in das Dickicht hinterher zu steigen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht einfach ohne ihn weiterreiten sollte.
Viel lieber würde er ohne Umwege in den Süden reiten und diese eintönige Schneelandschaft hinter sich lassen, durch die er nun schon knapp fünf Tage ritt. Er hatte die Nase voll. Die Sonne, die ihn seit seinem Aufbruch nur als milchige Scheibe begleitete und weder die Tage richtig hell, noch die Nächte richtig dunkel werden liess, trieb ihn langsam in den Wahnsinn. Er sehnte sich nach der Wärme des Südens. Nach der Heimat.
Orek seufzte. Er konnte seinen Hund nicht einfach zurücklassen. Schliesslich waren sie in der Zeit, in der die beiden durch diesen Teil des Landes reisten, so etwas wie gute Freunde geworden.
Orek führte das Pferd an den Waldrand und befestigte die Zügel am Geäst eines knorrigen Baumes. Er tätschelte den Hals des Tieres, das den Kopf senkte und nervös schnaubte. Mit routinierten Bewegungen prüfte er den Sitz seines Gürtels und der Schwertscheide, bevor er mit einem ausgreifenden Schritt durch die schmale Bresche im Gebüsch trat und den Spuren seines Hundes folgte.
Die Luft im Wald war eiskalt. Die wenigen Geräusche klangen gedämpft, so, als absorbierte der Schnee jeglichen Schall. Hier unter den Bäumen lag das Weiss nicht ganz so hoch, aber dennoch sank Orek bis über die Knöchel ein. Er blickte sich um.
Die Spuren, die sein Hund hinterlassen hatte, führten um einen umgestürzten Baum herum und verschwanden hinter einer kleinen Erhebung.
»Dari!«
Mit angehaltenem Atem lauschte er in die drückende Stille des Waldes. Blut rauschte im Rhythmus seines Herzschlags in den Ohren und irgendwo neben ihm rieselte Schnee durch das Geäst der Büsche. Dann hörte er es, entfernt und ganz leise: ein Jaulen.
Einem inneren Drang folgend zog Orek sein Schwert, dann stürzte er los.
Die Spuren im Schnee waren gut sichtbar, sie schienen zielstrebig, so, als hätte Dari etwas verfolgt. Er folgte ihnen, so schnell er konnte. Ab und zu hielt er inne und lauschte. Doch das Jaulen wiederholte sich nicht.
Er konnte nicht sagen, wie lange er durch den Wald irrte und den Spuren seines Hundes folgte. Irgendwann jedoch änderte sich etwas: Plötzlich gesellte sich eine zweite, unregelmässige Spur zu jener von Dari. Es handelte sich eindeutig um die Spur eines Paarhufers. Hatte Dari etwa einen Hirsch verfolgt?
Orek umrundete einen kleinen Felsblock – und fand sich am Rande eines Schlachtfelds wieder. Vor ihm lag eine etwa fünf Schritt durchmessende Lichtung, in deren Mitte der Schnee niedergetrampelt und der Boden so aufgewühlt war, dass an manchen Stellen schwarze Erde zum Vorschein kam. Ein armdicker Stamm war zersplittert, das Holz ragte wie gebrochene Knochen aus der zerfetzten Rinde empor.
Und alles war voller Blut. In der Mitte des Schauplatzes, dort, wo der Kampf am heftigsten getobt haben musste, entdeckte Orek eine dampfende, schwarze Lache. Jetzt bemerkte er auch den überwältigenden metallenen Geruch, der ihn würgen und zurücktaumeln liess. Er hob keuchend die Armbeuge und vergrub Nase und Mund im klammen Leder des Wamses.
Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, fiel es ihm auf: Er sah nirgendwo ein totes Tier. Orek sah sich suchend um und gewahrte am Rand des Schauplatzes blutige Abdrücke im weissen Schnee. Erleichtert atmete er auf. Hundespuren. Sie führten von der kleinen Lichtung weg, machten nach ein paar Schritten weiter einen scharfen Knick nach rechts und verschwanden im Dickicht.
Gerade, als er den Spuren folgen wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich, das ihm das Blut in den Adern gefrieren liess. Ein tiefes Gurgeln, das ihn entfernt an ein Knurren erinnerte. Langsam drehte sich Orek mit erhobenem Schwert herum.
Hinter ihm stand Dari.
Jedenfalls nahm er an, dass es Dari war. Denn der Hund war über und über mit Blut besudelt, sodass er die Farbe des verklebten Felles nicht erkennen konnte.
»Dari?«
Der Hund kam langsam näher, und mit jedem Schritt fielen Orek immer mehr Dinge auf, die nicht passten: die ungleichen Ohren. Die Augen, die nicht auf gleicher Höhe waren und nicht dem gleichen Tier zu gehören schienen. Auf der einen Seite des Schädels konnte er ein zersplittertes Geweih erkennen. Der … Hund … zog einen der Hinterläufe wie lahm hinter sich her, und Orek erstarrte, als er erkannte, dass es keine Pfote, sondern ein gespaltener, blutiger Huf war. Unter der mit verklebten Fell bedeckten Haut schien sich etwas zu bewegen, denn an den Flanken zeigten sich immer wieder Ausbuchtungen, die wieder verschwanden.
Zitternd erhob Orek das Schwert. Doch er war zu langsam. Der Hund – das Ding – machte einen Satz auf ihn zu. Dann wurde alles schwarz.
Der Sharak’Tol beugte sich über die frische Beute, die dampfend im zerwühlten Schnee lag. Mit jedem Bissen, den der Waldgeist zu sich nahm, begann er sich zu verändern. Die Vorderpfoten verloren das Fell und einzelne Finger brachen unter der Haut hervor. Am ganzen verwachsenen Körper fielen die Haare aus. Die blutige Schnauze wurde kürzer, die Stirn höher, die Ohren kleiner. Die Hinterbeine streckten sich und drückten zitternd den gekrümmten Oberkörper in die Höhe.
Als er Orek vollkommen aufgenommen hatte, richtete sich der Sharak’Tol auf. Witternd blickte er sich mit starren, leeren Augen um. Dann verliess er die Lichtung und verschwand mit staksigen, ungelenken Schritten im Dämmerlicht des Waldes.
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Dass die Geschichte in diese Richtung gehen würde, hätte ich wirklich nicht erwartet. 😉 Aber spannend war sie allemal! Steht die Geschichte für sich oder ist sie Teil eines Projektes?
Liebe Grüsse,
Evelyne
Danke für deinen Kommentar! Sie steht für sich, spielt aber wie ein paar andere FlashFiction in der Welt Neramor. Dachte, ich schreib mal was über den kalten Norden, als immer nur vom warmen Süden 😉
Aber wer weiss, vielleicht kommt der nette Waldgeist mal in einer längeren Geschichte vor. 🙂
Gah, das ist ja bildlich! Gefällt mir. 😀 Das Mischwesen und die Transformation danach sind toll beschrieben.
Lieber Gruss,
Carmen
Danke für das Lob! Dann hat das ja geklappt – ich wollte mich mal an einer bildlichen, ekligen (?) Transformation versuchen. Eigentlich hätte ich gerne noch mehr Details beschrieben, aber dafür sind dann die 1000 Wörter doch zu wenig 😉
Jah, dieses Mal hab ich mich mit den 1000 Wörtern auch schwer getan und musste viel streichen. Aber das ist ja halt auch irgendwie der Sinn der Übung, nicht wahr?
Und ja, es durchaus eklig. 😉
Bis einen Abend vorher war ich auch noch etwa 100 Wörter drüber. Aber es hat gut getan, die Geschichte ein paar zusätzliche Tage liegen zu lassen – da streicht man gleich viel leichter 😉
Gibt’s dieses Ding/Sage wirklich? Für mich wäre das nach dieser Geschichte absolut plausibel. Vor allem weil ich gerade die Geister von Ure lese und da ja Geister auch mitmischen. PLAUSIBEL. Wie kann man sich vor so einem Ding schützen? Irgend ein Hintertürchen muss es ja geben, oder? 😀
Ich hoffe nicht, dass es das Ding gibt – aber in Neramor gibt’s den wirklich.
Ha! Über ein Hintertürchen habe ich noch gar nicht nachgedacht – das wäre eine weitere FlashFiction wert. Aber sonst: Wahrscheinlich sollte man dann einfach den Wald bzw. die Kälte meiden 😉
[…] Yvonne: Der Waldgeist […]
[…] die ich extra für dieses Bier-Projekt erschaffen wollte. In vereinzelten Flash Fiction hatte ich Teile dieser Welt bereits verwendet, allerdings nur oberflächlich und unzusammenhängend. Nun wollte ich die bereits vorhandenen […]